Zusammenfassung des Urteils IV 2011/62: Versicherungsgericht
Der Entscheid vom 24. August 2011 betrifft die CSS Kranken-Versicherung AG, die die Kosten für das Medikament Ritalin für A., einen Beigeladenen, übernehmen soll. A. wurde im Januar 2003 Leistungen der Invalidenversicherung zugesprochen, darunter auch die Genehmigung für medizinische Massnahmen wie Ergotherapie und Sonderbeschulung. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen verweigerte jedoch die Übernahme der Kosten für Ritalin im Rahmen der Psychotherapie. Die Krankenversicherung argumentierte, dass Ritalin Teil des Behandlungsplans sei und von der IV übernommen werden sollte. Nach eingehender Prüfung der medizinischen Berichte und der gesetzlichen Bestimmungen entschied das Versicherungsgericht, dass die Beschwerde der Krankenversicherung gutgeheissen wird. Die Beschwerdegegnerin muss rückwirkend ab 1. Januar 2007 die Kosten für das Ritalin übernehmen. Der Richter in diesem Fall war Miriam Lendfers, die Gerichtskosten betrugen CHF 600, und die unterlegene Partei war die IV-Stelle des Kantons St. Gallen (weiblich, Behörde).
Kanton: | SG |
Fallnummer: | IV 2011/62 |
Instanz: | Versicherungsgericht |
Abteilung: | IV - Invalidenversicherung |
Datum: | 24.08.2011 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | Entscheid Art. 12 Abs. 1 IVG; Art. 14 Abs. 1 lit. b IVG. Die IV hat bei einem an POS/ AD(H)S erkrankten Kind neben den Kosten für die Psychotherapie auch die Kosten für das im Behandlungskomplex enthaltene Medikament Ritalin zu übernehmen (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 24. August 2011, IV 2011/62). Aufgehoben durch Urteil des Bundesgerichts 9C_725/2011 |
Schlagwörter: | Behandlung; Ritalin; IV-act; Psychotherapie; Massnahme; Leiden; Leidens; Massnahmen; Eingliederung; Verfügung; Leistung; Medikament; Versicherung; Therapie; Recht; Anspruch; Krankenversicherung; Erwerbsfähigkeit; IV-Stelle; Zeitraum; Bestandteil; Altersjahr; Versicherungsgericht; Kostenübernahme; Kinder; Verordnung; Abgabe; ätzlich |
Rechtsnorm: | Art. 24 ATSG ;Art. 48 ATSG ;Art. 49 ATSG ;Art. 8 ATSG ; |
Referenz BGE: | 105 V 20; 126 V 149; 131 V 425; |
Kommentar: | - |
Vizepräsidentin Miriam Lendfers, Versicherungsrichterinnen Karin Huber-Studerus und Monika Gehrer-Hug; Gerichtsschreiber Matthias Burri
Entscheid vom 24. August 2011
in Sachen
CSS Kranken-Versicherung AG, Recht & Compliance, Tribschenstrasse 21, Postfach 2568, 6002 Luzern,
Beschwerdeführerin,
und
A. ,
Beigeladener,
vertreten durch seinen Vater B. ,
gegen
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin, betreffend
medizinische Massnahmen für A.
Sachverhalt:
A.
A. , geboren 1995, wurde im Januar 2003 zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung angemeldet (IV-act. 1). Mit Verfügung vom 1. April 2003 wurde das Geburtsgebrechen Nr. 207, Hpyerodontia congenita, die angeborene Bildung überzähliger Zähne, für den Zeitraum 24. Februar 2003 bis 31. Januar 2015 anerkannt
(IV-act. 13).
Eine weitere Anmeldung unter Hinweis auf eine Entwicklungsverzögerung und eine Sprachentwicklungsverzögerung erfolgte im Mai 2003. Beantragt wurden Beiträge an die Sonderschulung (IV-act. 14). Am 26. Juni 2003 wurde externe Sonderbeschulung für das Schuljahr 2003/2004 bewilligt (IV-act. 25). Im August 2003 wurde Ergotherapie beantragt (IV-act. 27). Diese wurde am 4. Dezember 2003 für das Schuljahr 2003/2004 bewilligt (IV-act. 37). Nachdem seitens der Sprachheilschule
C. am 23. Februar 2004 über Dysgrammatismus, Sprachentwicklungsverzögerung und auditive Merkschwäche berichtet worden war (IV-act. 38), bewilligte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen dem Versicherten am 1. März 2004 interne Sonderbeschulung für den Zeitraum 23. Februar 2004 bis Ende Schuljahr 2005/2006 (IV-act. 41). Die Kostenübernahme für Ergotherapie wurde am 21. April 2004 zeitlich angepasst (IV- act. 43).
Am 20. Juni 2005 beantragte Dr. med. D. , Fachärztin FMH für Kinder- und Jugendmedizin, die Sprachheiltherapie begleitende Psychotherapie (IV-act. 45-1). Die
IV-Stelle bewilligte mit Verfügung vom 8. August 2005 die Übernahme der Psychotherapiekosten für den Zeitraum 25. April 2005 bis 31. Juli 2006 (IV-act. 49). Diese Kostengutsprache wurde in der Folge mehrfach verlängert (vgl. IV-act. 60; 65; 73; 78), letztmals mit Verfügung vom 12. August 2010 für den Zeitraum 1. September
2010 bis 30. September 2012 (IV-act. 83). B.
Unter Bezugnahme auf eine Aufstellung der Behandlungskosten der IV- Koordination des Schweizerischen Verbandes für Gemeinschaftsaufgaben der Krankenversicherer (SVK) vom 7. Oktober 2010 (IV-act. 84) teilte die IV-Stelle dem SVK am 18. Oktober 2010 mit, das dem Versicherten verschriebene Medikament Ritalin gehe nicht zu Lasten der IV (IV-act. 85). Am 15. Oktober 2010 wandte sich die IV-Stelle nach einer Rückfrage bei ihrem Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD; IV-act. 87) erneut
an den SVK und hielt fest, bei der Verordnung von Ritalin handle es sich nicht um einen Bestandteil der Psychotherapie, sondern um eine eigenständige Behandlungsform, die im Rahmen eines multimodalen Behandlungsregimes zur Behandlung des Leidens an sich, unabhängig von der Psychotherapie, bei Bedarf eingesetzt wieder sistiert werden könne. Aus diesem Grund gingen die Kosten nicht zu Lasten der IV (IV-act. 88). Die Krankenversicherung des Versicherten, die CSS Versicherung, äusserte im Schreiben vom 2. Dezember 2010 die Ansicht, die Abgabe von Ritalin stehe in direktem Zusammenhang mit der durchgeführten Psychotherapie, und beantragte umfassende Akteneinsicht (IV-act. 90). Diese wurde ihr am 9. Dezember 2010 gewährt (IV-act. 91). Im Schreiben vom 23. Dezember 2010 stellte die Krankenversicherung sich auf den Standpunkt, die medizinischen Massnahmen der IV umfassten auch die Abgabe der vom Arzt verordneten Arzneien. Die medikamentöse Therapie diene zur Unterstützung der Psychotherapie bzw. sei unmittelbar auf die Eingliederung gerichtet. Sie sei von der IV zu übernehmen (IV-act. 97).
Mit Verfügung vom 10. Januar 2011 verweigerte die IV-Stelle die Kostengutsprache für Medikamente im Rahmen der Psychotherapie (IV-act. 98).
C.
Gegen diese Verfügung richtet sich die Beschwerde der Krankenversicherung vom 10. Februar 2011. Sie beantragt unter Kosten- und Entschädigungsfolgen die Aufhebung der Verfügung und die Übernahme der Kosten der Behandlung mit dem Medikament Ritalin während der zugesprochenen Psychotherapie ab 1. August 2008. Liege ein medizinischen Massnahmen grundsätzlich zugänglicher Zustand vor, umfasse der Behandlungsanspruch alle vorgenommenen therapeutischen Massnahmen. Dazu gehöre auch die Abgabe von Arzneien zu den medizinischen Massnahmen. Dr. med. E. habe im Bericht vom 2. Juli 2007 die Ritalin-Behandlung nicht erwähnt und somit auch noch nicht zum Teil des Behandlungsplanes erklärt. Die Psychotherapeutin lic. phil. F. habe hingegen am 18. Mai 2008 darauf hingewiesen, dass die ADS-Symptomatik des Versicherten auch auf medikamentöser Ebene behandelt werde. Dr. E. habe im Verlaufsbericht vom 2. Juli 2008 die medikamentöse Unterstützung zum Bestandteil des Behandlungsplans erklärt. Seit dem Jahr 2008 werde der Versicherte parallel zur Psychotherapie konsequent mit
Ritalin behandelt und ein Absetzungsversuch im Frühling 2008 sei gescheitert. Dass die Psychotherapie der Eingliederung diene, die Ritalinbehandlung hingegen der Behandlung des Leidens an sich, werde von der Beschwerdegegnerin weder begründet, noch lasse sich dies den medizinischen Akten entnehmen. Ganz im Gegenteil werde die medikamentöse Therapie ab dem Jahr 2008 immer als integrierter Teil des Behandlungsplanes ausgewiesen. Den Aussagen von Dr. E. könne entnommen werden, dass sich Ritalinbehandlung und Psychotherapie beim Versicherten gegenseitig bedingen und unterstützen würden und keines von beiden weggelassen werden könne, ohne den bisherigen Therapie- und Eingliederungserfolg zu gefährden. Eine Aufteilung auf eine Eingliederungsbehandlung einerseits und eine Leidensbehandlung andererseits sei nicht nachvollziehbar (act. G 1).
Die Beschwerdegegnerin beantragt in der Beschwerdeantwort vom 4. April 2011 die Abweisung der Beschwerde. Die zuständige RAD-Ärztin habe am 11. November 2010 ausgeführt, im konkreten Fall sei die Verordnung von Ritalin keinesfalls Bestandteil der Psychotherapie, sondern eine eigenständige Behandlungsform, die im Rahmen eines multimodalen Behandlungsregimes zur Behandlung des Leidens an sich unabhängig von der Psychotherapie bei Bedarf eingesetzt wieder sistiert werden könne. Weiter wird darauf hingewiesen, dass die Psychotherapie beim Versicherten als psychosoziale Therapie diene. Das Ritalin werde zur Symptombehandlung eingesetzt.
Es diene somit als Behandlung des Leidens an sich und könne nicht von der IV
übernommen werden (act. G 4).
In der Replik vom 28. April 2011 lässt die Krankenversicherung an ihren Anträgen gemäss Beschwerde festhalten. Die von der Beschwerdegegnerin geltend gemachte Aufteilung in eine rein symptomatische Behandlung (Ritalin) und eine therapeutische Behandlung (Psychotherapie) stimme im Fall des Versicherten mit den diesbezüglich eindeutigen Aussagen von Dr. E. nicht überein. Sie stehe vielmehr im Widerspruch zu der mehrfach betonten Notwendigkeit eines multimodalen Behandlungsregimes. Einem Schreiben von lic. phil. F. vom 6. Juni 2009 könne entnommen werden, dass gerade die Schwierigkeiten mit der auch mit Ritalin behandelten Impulskontrolle, die nach Meinung der Beschwerdegegnerin reine Leidensbehandlung darstelle, massive Auswirkungen auf die schulische Leistungsfähigkeit und damit auch Eingliederungsfähigkeit habe. Deshalb sei es nicht möglich, die Ritalinbehandlung als selbständigen Behandlungsteil zur reinen Leidensbehandlung von der Psychotherapie abzutrennen (act. G 6).
Die Beschwerdegegnerin hielt am 19. Mai 2011 an ihren Anträgen fest und verzichtete auf weitere Ausführungen (act. G 8).
Am 20. Mai 2011 wurde der Versicherte, vertreten durch seinen Vater, zum Prozess beigeladen. Die Frist zur Stellungnahme liess er ungenutzt verstreichen (act. G 9; 10).
Erwägungen:
1.
Gemäss Art. 59 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) ist zur Beschwerde berechtigt, wer durch die angefochtene Verfügung den Einspracheentscheid berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung Änderung hat. Als Spezialbestimmung regelt Art. 49 Abs. 4 ATSG, dass ein Versicherungsträger eine Verfügung, die die Leistungspflicht eines anderen Trägers berührt, auch ihm zu eröffnen hat, woraufhin dieser dieselben Rechtsmittel ergreifen kann wie die versicherte
Person. Die Beschwerdeführerin ist die Krankenversicherung des Versicherten. Verneint die Beschwerdegegnerin ihre Leistungspflicht für das Medikament Ritalin, so wird die Beschwerdeführerin diesbezüglich leistungspflichtig. Sie ist von der angefochtenen Verfügung also berührt und demnach zur Beschwerdeführung legitimiert.
2.
Streitig und im vorliegenden Verfahren zu überprüfen ist, ob die Beschwerdegegnerin die Kosten für das dem Beschwerdeführer seit längerem verschriebene Medikament Ritalin zu übernehmen hat. Sollte eine Leistungspflicht bejaht werden, wäre der Leistungsbeginn gesondert zu überprüfen.
3.
Gemäss Art. 8 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) haben invalide von einer Invalidität bedrohte Versicherte einen Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, soweit diese notwendig und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, wieder herzustellen, zu erhalten zu verbessern (lit. a), und die Voraussetzungen für den Anspruch auf die einzelnen Massnahmen erfüllt sind (lit. b). Zu den Eingliederungsmassnahmen gehören unter anderem die medizinischen Massnahmen (Art. 8 Abs. 3 lit. a IVG). Nach Art. 12 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die Eingliederung ins Erwerbsleben in den Aufgabenbereich gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, dauernd und wesentlich zu verbessern vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren (Abs. 1).
Die Einschränkung „bis zum vollendeten 20. Altersjahr“ wurde bei im Übrigen unverändertem Wortlaut mit der 5. IV-Revision ab 1. Januar 2008 in Art. 12 Abs. 1 IVG eingefügt. Unter der Geltung von Art. 12 IVG in der bis Ende 2007 gültig gewesenen Fassung durfte sich die medizinische Massnahme bei Erwachsenen nicht auf die Behandlung des Leidens an sich richten. Um eine Behandlung des Leidens an sich
gehe es in der Regel bei der Heilung Linderung labilen pathologischen Geschehens, so das EVG (AHI 2003, 104 E. 2). Die Rechtsprechung kannte von dieser Regel jedoch eine Ausnahme für nichterwerbstätige Personen vor dem vollendeten
20. Altersjahr. Diese gelten als invalid, wenn die Beeinträchtigung ihrer körperlichen, geistigen psychischen Gesundheit voraussichtlich eine ganze teilweise Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben wird (Art. 5 Abs. 2 IVG i.V.m. Art. 8 Abs. 2 ATSG). Nach der vor Inkrafttreten der 5. IV-Revision gültigen Rechtsprechung konnten medizinische Vorkehren bei Jugendlichen deshalb schon dann überwiegend der beruflichen Eingliederung dienen und trotz des einstweilen noch labilen Leidenscharakters von der IV übernommen werden, wenn ohne diese Vorkehren eine Heilung mit Defekt ein sonstwie stabilisierter Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung die Erwerbsfähigkeit beide beeinträchtigt würden (AHI 2003
S. 104 E. 2; Entscheide des Eidgenössischen Versicherungsgerichts [EVG; seit 2007 sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts] I 484/02 vom 27. Oktober 2003 und
I 16/03 vom 6. Mai 2003; BGE 105 V 20). Diese Praxis legte aArt. 12 Abs. 1 IVG also in Bezug auf unter 20-Jährige gegen den Wortlaut aus. Die Kosten einer Behandlung von Versicherten vor dem vollendeten 20. Altersjahr wurden von der IV getragen, wenn das Leiden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem schwer korrigierbaren, die spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit erheblich behindernden gar verunmöglichenden stabilen pathologischen Zustand führen konnte. Im Rahmen der 5. IV-Revision sollte Art. 12 IVG nach dem Willen des Bundesrats ersatzlos gestrichen und sämtliche medizinischen Massnahmen sollten bei der Krankenversicherung angesiedelt werden (vgl. Ziff. 1.6.3.2 der Botschaft des Bundesrats vom 22. Juni 2005 zur
Änderung des IVG, BBl 2005 4459, 4540 ff.). Das Parlament folgte diesem Vorschlag nicht und sprach sich dafür aus, dass die IV weiterhin bis zum 20. Altersjahr der versicherten Person im Rahmen der beruflichen Eingliederung für die medizinischen Massnahmen aufkommen müsse. Die Praxis, wonach bei Kindern und Jugendlichen selbst bei labilem Leidenscharakter bzw. Behandlung des Leidens an sich medizinische Massnahmen übernommen wurden, wenn ohne diese eine Heilung mit Defekt ein sonstwie stabilisierter Zustand einträte, sollte beibehalten werden (vgl. dazu auch Ulrich Meyer, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, 2. Aufl., Zürich/Basel/ Genf 2010, S. 133 f.). Der seit 1. Januar 2008 in Kraft stehende Art. 12 Abs. 1 IVG ist daher nicht seinem Wortlaut getreu anzuwenden. Der dort festgeschriebene Grundsatz,
dass die medizinische Massnahme nicht auf die Behandlung des Leidens an sich gerichtet sein darf, wie dies vor Inkrafttreten der 5. IV-Revision praxisgemäss ausschliesslich bei über 20-Jährigen der Fall war, kann folglich weiterhin nicht ohne weiteres auf unter 20-Jährige übertragen werden (vgl. auch den Entscheid IV 2009/443+457 des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 13. August 2010, E. 3; bestätigt durch den Bundesgerichtsentscheid 9C_809/2010 vom
23. Dezember 2010).
Zur Beantwortung der Frage, ob bei labilen Gesundheitsverhältnissen mittels medizinischer Massnahmen einem Defektzustand vorgebeugt werden kann, welcher die Berufsbildung Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erheblich beeinträchtigen würde, bedarf es im Allgemeinen eines fachärztlichen Berichts, der sich nicht mit einem pauschalen Hinweis auf die mögliche Verbesserung Erhaltung von Berufs- und Erwerbsfähigkeit begnügen darf, sondern sich auch ausdrücklich zur Prognose zu äussern hat. Ein stabiler Defektzustand kann bereits dann zu befürchten sein, wenn das Gebrechen den Verlauf einer prägenden Phase der Kindesentwicklung derart nachhaltig stört, dass letztlich ein uneinholbarer Entwicklungsrückstand eintritt, der wiederum die Bildungs- und mittelbar auch die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt (EVGE
I 302/05 vom 31. Oktober 2005 E. 3.2.3; bzw. Urteil 8C_269/2010 des Bundesgerichts
vom 12. August 2010).
Der Leistungsumfang der Invalidenversicherung bezüglich medizinischer Massnahmen ist in Art. 14 IVG geregelt. Gemäss Art. 14 Abs. 1 lit. b IVG umfassen die medizinischen Massnahmen auch die Abgabe der vom Arzt verordneten Arzneien. Art. 4bis der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) hält fest, die Versicherung übernehme die Analysen, Arzneimittel und pharmazeutischen Spezialitäten, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt seien und den Eingliederungserfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstrebten.
4.
4.1 Die Beschwerdegegnerin finanziert seit 2005 Psychotherapie für den
Versicherten. Zurzeit basieren die Leistungen auf der rechtskräftigen Verfügung vom
12. August 2010 betreffend den Zeitraum 1. September 2010 bis 30. September 2012 (IV-act. 83). Diese Kostenübernahme wird von keiner der Parteien in Frage gestellt. Zu prüfen ist, ob zusätzlich das Medikament Ritalin von der Beschwerdegegnerin zu bezahlen ist. Diese begründet ihre diesbezügliche Weigerung damit, dass es sich bei der Verordnung von Ritalin nicht um einen Bestandteil der Psychotherapie handle, sondern um eine eigenständige Behandlungsform, die im Rahmen eines multimodalen Behandlungsregimes zur Behandlung des Leidens an sich, unabhängig von der Psychotherapie, bei Bedarf eingesetzt wieder sistiert werden könne. Die Beschwerdeführerin sieht die Ritalin-Verordnung als Bestandteil des Behandlungsplans und bejaht deshalb eine Kostenpflicht der IV.
4.2
Dr. D. hielt bereits im Schreiben vom 20. Juni 2005 fest, der Versicherte werde wegen einer Aufmerksamkeits-Defizit-Störung seit anderthalb Jahren zusätzlich zum Besuch der Sprachheilschule durch seinen Hausarzt mit Ritalin behandelt. Damit er möglichst gut von der Sonderschulung profitieren könne, sei es wichtig, dass er zur Verbesserung seines Selbstvertrauens begleitende Psychotherapie erhalte (IV-
act. 45-1). Der Hausarzt Dr. med. G. hatte der Beschwerdegegnerin bereits im Oktober 2004 eine TP-Rechnung eingereicht, die im Zeitraum Juli bis September 2004 die Abgabe von Ritalin ausweist (IV-act. 44-1).
Dr. E. hielt im Bericht vom 9. September 2006 fest, diagnostisch müsse am ehesten von einem offenbar nicht frühzeitig diagnostizierten POS ausgegangen werden. Er erwähnt eine Verhaltensstörung im Sinn von unkontrollierten emotionalen Ausbrüchen, vor allem Wutanfällen, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Problemen mit dem planerischen und strukturierten Denken und teilweise Mühe, Realität und Fiktion auseinanderzuhalten. Zusätzlich bestünden Symptome, die an autistische Züge denken liessen. Es trete eine ängstlich-zwanghafte Folgesymptomatik auf. Zusammen mit der ebenfalls bestehenden feinmotorischen Störung führe das zu Überforderungssituationen. Die Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung des Versicherten sei negativ beeinflusst, insbesondere auch sein Selbstwertgefühl (IV-
act. 57). Am 2. Juli 2007 begründete Dr. E. die weitere Indikation zur
Psychotherapie mit Hinweisen auf Steuerungsprobleme im emotionalen Bereich,
Verhaltensauffälligkeiten, Schwierigkeiten in der Wahrnehmungsverarbeitung und eine
Rückzugs-Reaktion auf die motorischen Probleme (IV-act. 62).
Die Psychotherapeutin lic. phil. F. berichtete am 18. Mai 2008 von einer augenfälligen ADS-Symptomatik. Diese werde auch auf medikamentöser Ebene behandelt. Die Weiterführung der Psychotherapie sei dringend indiziert (IV-act. 66).
Dr. E. wies am 6. Juli 2008 auf das Geburtsgebrechen Ziff. 404 GgV-Anhang hin und erwähnte, dass im Frühling ein Ritalin-Absetzversuch gescheitert sei. Nach wie vor habe der Versicherte Probleme mit der Impulskontrolle. Ritalin bringe aber nur die Voraussetzung dafür, die Selbststeuerung müsse intensiv in der Therapie behandelt werden, das Medikament allein helfe nicht. Die Prognose sei bei genügender äusserer Struktur, medikamentöser Unterstützung, Psychotherapie und kompetenter Beratung des Vaters und des weiteren Umfelds massiv besser als ohne diese Massnahmen (IV- act. 67-3 f.). Die behandelnde Psychotherapeutin erwähnte am 6. Juni 2009, die Therapie erfolge wegen des Geburtsgebrechens Ziff. 404. Noch immer habe der Versicherte aufgrund des Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms massive Schwierigkeiten mit der Impulssteuerung, der Wahrnehmung und der Konzentration. Neben der Psychotherapie werde er medikamentös behandelt (IV-act. 74). Dr. E. wies am
23. Juni 2009 darauf hin, der Versicherte benötige neben der Psychotherapie weiterhin Ritalin (IV-act. 75). Das Fortdauern von Psychotherapie und Medikation bestätigte die Psychotherapeutin am 6. Juni 2010 (IV-act. 79). Dr. E. hielt am 26. Juli 2010 unter Hinweis auf die weiterhin bestehende ADHS-Problematik fest, eine Kombination von Psychotherapie und Medikamenten helfe erwiesenermassen am besten (IV-act. 80-3).
Die behandelnden Ärzte und Psychotherapeutinnen sind sich in der Diagnostizierung des beim Versicherten vorhandenen Krankheitsbildes einig: Es kann als erstellt gelten, dass eine Problematik gemäss Ziff. 404 des GgV-Anhangs vorliegt, also ein POS bzw. AD(H)S besteht. Dies bestreitet auch Dr. med. H. vom Regionalen Ärztlichen Dienst nicht (vgl. IV-act. 87). Dass die Krankheit nicht als Geburtsgebrechen im Sinn von Art. 13 IVG anerkannt wurde, dürfte im unterbliebenen Antrag bzw. in der nicht rechtzeitig vor Vollendung des 9. Altersjahres gestellten Diagnose und begonnenen Behandlung begründet liegen.
Wie erwähnt, war die Indikation zur Einnahme von Ritalin nach der Aktenlage bereits seit dem Jahr 2004 gegeben. Die zitierten Berichte der behandelnden Medizinalpersonen machen deutlich, dass die Verschreibung des Ritalins Teil des gesamten Behandlungskomplexes in Bezug auf die Krankheit ist. Dies steht im Einklang mit der Indikation des Medikamentes gemäss dem Arzneimittelkompendium der Schweiz. Demnach ist die Einnahme von Ritalin angezeigt bei hyperkinetischen Verhaltensstörungen bzw. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern. Derartige Störungen werden gemäss Kompendium als psycho-organisches Syndrom als hyperaktives Syndrom, Konzentrationsschwäche auch als minimale Hirndysfunktion bezeichnet. Die Einnahme von Ritalin ist gemäss der Fachinformation des Arzneimittelkompendiums indiziert als Teil eines umfassenden Therapieprogramms, zu dem typischerweise auch psychologische, erzieherische und soziale Behandlungsmassnahmen gehören, mit dem Ziel, auffälliges Verhalten von Kindern mit folgenden Charakteristika zu stabilisieren: Mässige bis starke Ablenkbarkeit, rasch nachlassende Aufmerksamkeit, Hyperaktivität (nicht immer vorhanden), emotionale Labilität und Impulsivität. Diese Ausführungen zur Indikation ergeben zusammen mit den konkreten medizinischen Stellungnahmen ein konsistentes Bild: sowohl die Psychotherapie als auch die Ritalin-Einnahme dienen der Behandlung des Krankheitsbildes POS/AD(H)S; sie ergeben zusammen einen sinnvollen Behandlungskomplex. Selbst die RAD-Ärztin spricht von einem ausgebauten multimodalen Behandlungsregime, das deutliche Therapiefortschritte gebracht habe. Ob die Verschreibung des Medikaments eine "eigenständige Behandlungsform" ist (IV- act. 87), ist entgegen ihrer Ansicht unerheblich. Wie oben erläutert, ist es bei Kindern und Jugendlichen entgegen dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 IVG nicht von Belang, ob eine Behandlung des Leidens an sich erfolgt, solange das Eingliederungsziel im Zentrum steht. Das Ritalin ist im gesamten Behandlungsplan notwendiger Bestandteil und dient durch den damit und mit den Therapien erzielten Erfolg der Eingliederung des Versicherten. Eine Pflicht zur Kostenübernahme ist daher gestützt auf Art. 12
Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 lit. b IVG zu bejahen. 5.
Zu prüfen bleibt, ob eine rückwirkende Kostenübernahmepflicht der
Beschwerdegegnerin besteht. Die Beschwerdeführerin beantragte erstmals im Herbst
2010 (IV-act. 86-3) die Kostenübernahme, gemäss Beschwerde rückwirkend ab
1. August 2008. Laut den oben zitierten medizinischen Berichten nahm der Versicherte allerdings mindestens schon seit dem Jahr 2004 Ritalin ein. Ob es sich dabei um eine durchgehende, weitgehend lückenlose Einnahme handelte, ist nicht aktenkundig.
Der Anspruch auf ausstehende Leistungen erlischt gemäss Art. 24 Abs. 1 ATSG fünf Jahre nach dem Ende des Monats, für welchen die Leistung geschuldet war. Der im Rahmen der 5. IV-Revision per 1. Januar 2008 aufgehobene Art. 48 IVG sah eine kürzere Verwirkungsfrist vor. Meldete sich eine versicherte Person mehr als zwölf Monate nach Entstehen des Anspruchs an, so wurden die Leistungen in Abweichung von Art. 24 Abs. 1 ATSG lediglich für die zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate ausgerichtet. Weitergehende Nachzahlungen wurden erbracht, wenn der Versicherte den anspruchsbegründenden Sachverhalt nicht kennen konnte und die Anmeldung innert zwölf Monaten nach Kenntnisnahme vornahm.
Nach den allgemeinen übergangsrechtlichen Grundsätzen ist bei Fehlen einer die Frage regelnden Übergangsbestimmung die Verwirkungsordnung des neuen Rechts auf unter dem alten Recht entstandene (fällige) Ansprüche anwendbar, sofern diese bei Inkrafttreten des neuen Rechts noch nicht verwirkt sind (vgl. BGE 131 V 425 E. 5.2). Dies bedeutet grundsätzlich, dass in Fällen, bei denen bis zum 1. Januar 2008 – dem Inkrafttreten des neuen Rechts – keine Anmeldung des Anspruchs erfolgt war, ab diesem Zeitpunkt die Verwirkungsfrist von aArt. 48 Abs. 2 IVG nicht mehr anwendbar war. Ab dem 31. Dezember 2007 waren also gestützt auf diese Bestimmung alle Ansprüche verwirkt, die bis zum 1. Januar 2007 entstanden waren. Mit dem Ausserkrafttreten von aArt. 48 Abs. 2 ATSG wurde somit Art. 24 Abs. 1 ATSG sofort anwendbar, d.h. es gilt eine fünfjährige Verwirkungsfrist ab Entstehung des – am
1. Januar 2008 nach altem Recht noch nicht verwirkten – Anspruchs auf die einzelne Leistung (IV-Rundschreiben des Bundesamts für Sozialversicherungen [BSV] Nr. 300 vom 15. Juli 2011).
Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass grundsätzlich die Verwirkungsfrist des Art. 24 Abs. 1 ATSG zur Anwendung gelangt, allerdings die Einjahresfrist nach altem Recht insofern Beachtung findet, als alle Ansprüche am 31. Dezember 2007 verwirkt waren, die bis zum 1. Januar 2007 entstanden waren. Folglich hat die
Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin die Kosten für das Ritalin ab 1. Januar 2007 zu bezahlen. Sie wird sich die effektiv angefallenen Kosten ab diesem Zeitpunkt noch belegen lassen.
Da das Versicherungsgericht nicht an die Parteibegehren gebunden ist und der Beschwerde führenden Partei auch mehr zusprechen kann, als diese verlangt hat (Art. 61 lit. d ATSG), ist unerheblich, dass die Beschwerdeführerin die Übernahme der Kosten für das Ritalin erst ab 1. August 2008 beantragt hat.
6.
Gemäss den vorstehenden Erwägungen ist die Beschwerde unter Aufhebung der Verfügung vom 10. Januar 2011 gutzuheissen. Die Beschwerdegegnerin hat rückwirkend ab 1. Januar 2007 die angefallenen Kosten für das dem Versicherten verschriebene Ritalin zu übernehmen.
Das Beschwerdeverfahren ist kostenpflichtig. Die Kosten werden nach dem Verfahrensaufwand und unabhängig vom Streitwert im Rahmen von Fr. 200.- bis Fr. 1000.- festgelegt (Art. 69 Abs. 1bis IVG). Eine Gerichtsgebühr von Fr. 600.- erscheint als angemessen. Die Beschwerdegegnerin unterliegt und hat deshalb die gesamte Gerichtsgebühr zu bezahlen. Der obsiegenden Krankenversicherung ist der geleistete Kostenvorschuss zurückzuerstatten. Sie hat hingegen als mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betraute Organisation keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (BGE 126 V 149 E. 4a).
Demgemäss hat das Versicherungsgericht im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP entschieden:
Die Beschwerde wird unter Aufhebung der Verfügung vom 10. Januar 2011 gutgeheissen. Die Beschwerdegegnerin hat rückwirkend ab 1. Januar 2007 die Kosten für das dem Versicherten verschriebene Ritalin zu übernehmen.
Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten von Fr. 600.- zu bezahlen. Der Beschwerdeführerin wird der Kostenvorschuss von Fr. 600.- zurückerstattet.
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